Schilling-Kurier 2001

Es ist so weit: Die zweite Ausgabe des Schilling-Kuriers ist da. Das Wichtigste: Der Familientag 2002 nimmt Gestalt an. Das Treffen soll vom 7. bis 9. Juni in Freiburg/Heitersheim stattfinden. Als Zusatzprogramm ist eine Verlängerung bis zum 12. Juni in und um Straßburg geplant. Über Einzelheiten werden wir Euch rechtzeitig informieren. Aber den Termin müsst Ihr Euch schon notieren.

In der Vorstandssitzung vom 13. Januar 2001 wurde außerdem die neue Satzung zur Kenntnis genommen. Die wichtigste Änderung: Künftig können auch Familienangehörige, die in der zweiten Generation keine Namensträger sind (also deren Großmutter eine geborene Schilling ist) und uneheliche Namensträger, ordentliche Mitglieder werden. Große Freude herrschte im Vorstand über die neue Webseite, die Vetter Christian mit großem Arbeitseinsatz entwickelt hat. Sie existiert unter folgenden Adressen:

www.schilling-verband.de

www.schilling-association.org

Außerdem gibt es eine e-mail-Adressenliste unter (nur autorisierter Zugriff):

www.schilling-verband.de/members/emaildir.htm (Anm. von Christian SvC: die geschützten Inhalte sind nur noch hier einzusehen).

 

Noch etwas ganz Wichtiges: Unser Jugendsprecher Hubertus plant vom 18. bis 19. August zusammen mit Cousine Ricarda Firkert ein Jugendtreffen in Dresden. Einladungen werden rechtzeitig verschickt.

Auch das ist sicherlich von Interesse: Unser Vorsitzender hat am 25. November zusammen mit seiner Frau Ebba unser umfangreiches Archiv, das bisher bei seinem Vorgänger Heinz. H. Freiherr Schilling v. Canstatt in Mainz lagerte, nach Düsseldorf geholt. Heinz hat es mustergültig geordnet in 51, teilweise recht große Kartons verpackt. Dazu gehören neben mehr oder weniger informativen Schriften auch 22 verschiedene, teilweise sehr dicke, sehr alte Bücher und Bibeln. Heinar Schilling, der Vorsitzende des damaligen Familienverbandes, hatte das Archiv 1945 vor der Vernichtung in Dresden gerettet und es nach Sylt und ein Jahr später auf das Schloss Glücksburg bei Flensburg überführt. Es lagerte danach bei Ernst Schilling in Munster und kam von dort nach Mainz.

Jetzt etwas ganz anderes: Wir haben eine Bitte um Hilfe erhalten. Unsere Cousine Alexandra von Schilling aus Kanada, die unseren Familientag 1999 zusammen mit ihrer damals nur drei Monate alten Tochter Anabelle mitmachte, sucht jemanden, der in diesem Sommer (Ende März bis Ende September) auf ihre Kinder aufpasst, auf Anabelle (inzwischen 23 Monate) und Sohn Jesse (2 Jahre). Alexandra schreibt: "Wir suchen ein junges Mädchen, das etwa 22 bis 25 Jahre alt ist und die etwas Neues erleben will. Sie sollte Erfahrung mit kleinen Kindern haben und einen Führerschein besitzen. Sie muss mit den Kindern Deutsch sprechen (beide verstehen die Sprache sehr gut), so dass sie auch anfangen, deutsch zu sprechen. Das junge Mädchen, das ihr Englisch oder Französisch verbessern will, müsste drei bis fünf Tage in der Woche arbeiten und hätte dann frei. Von einem Monat zum nächsten ändert sich immer mein Programm. Natürlich wollen wir auch dafür bezahlen, natürlich auch die Reise nach Kanada und zurück. Wir wohnen auf dem Lande ungefähr 40 Minuten von Montreal entfernt. In der Gegend gibt es allerlei zu sehen und es gibt natürlich auch Möglichkeiten, weiter zu reisen, in Richtung Toronto, Quebec und New York".

Alexandras Kontakt: e-mail: alexandra@netc.net

 

Was hat sich sonst in den drei Stämmen der Familie ereignet?

 

Westlicher Stamm (Lahnstein)

Johannes Schilling

Großes tut sich für einen berühmten Sohn der Familie, den Baumeister Johannes Schilling (1828 bis 1910), der nicht nur etliche Baudenkmale in Dresden (darunter die vier Tageszeiten auf der Brühlschen Terrasse), sondern auch das Niederwalddenkmal bei Rüdesheim geschaffen hat.

Seine Geburtsstadt Mittweida bei Chemnitz will den lange Zeit zwischengelagerten Nachlass des Baumeisters, wieder würdig im Heimatmuseum präsentieren. Von Ende November 2000 bis zum 25. Februar 2001 fand bereits eine Ausstellung statt, aus der sich eine Dauerdokumentation entwickeln soll.

Der Familienverband ist bereit, dem Museum mit einer Geldspende unter die Arme zu greifen. Außerdem wollen wir Dokumente aus unserem Familienarchiv dem Museum als Dauerleihgabe zur Verfügung stellen. Darunter ein Originalgemälde, das Julius Grüder 1857 geschaffen hat und die Ehrenbürgerurkunde.

 

Geburtshaus von Johannes SchillingAm 23. März dieses Jahres wurde eine Ehrentafel am Geburtshaus von Johannes Schilling angebracht, die das Gebäude schon früher einmal geziert hatte. An dieser Veranstaltung nahm auch unser Vorsitzender teil und überreichte den Scheck und die Leihgaben. Der Museumsleiter Heiko Weber erklärte bei der feierlichen Übergabe: "Diese Stücke werden eine außerordentlich große Bereicherung für unsere Dauerausstellung zu Johannes Schilling sein. Auch erscheinen uns die Stücke unentbehrlich für die weitere wissenschaftliche Aufarbeitung von Leben und Werk des großen Meisters."

 


Südlicher Stamm (Canstatt)

80. Geburtstag von Bill Schilling von Canstatt-Lutz (mit Jean SvC)Das war ein großer Tag in Kalifornien. Am 21. Juli 2000 feierte William (Bill) Schilling von Canstatt-Lutz in Walnut Creek bei San Fransisco seinen 80. Geburtstag. In dankbarer Würdigung und Anerkennung seiner langjährigen fruchtbaren genealogischen und organisatorischen Mitarbeit für unseren Verband überreichte unser Deputy in den USA, Dr. Jean von Schilling, zusammen mit ihrem Sohn Marshall dem Jubilar eine Urkunde und unsere höchste Auszeichnung, die Georgs-Medaille in Gold.

 

Aus den USA wird noch etwas Bemerkenswertes gemeldet. In der Stadt Hampton, in Virginia, soll im geplanten Historischen Museum ("Port Hampton") ein Raum an Freiherrn Franz Wilhelm Schilling von Canstatt (geb. 1832 in Hohenwettersbach bei Karlsruhe) erinnern, der als erster Angehöriger der I. Linie des südlichen Stammes in die USA ausgewandert ist. Die Erdarbeiten für das neue Museum beginnen noch im Mai. Unser Ehrenvorsitzender Heinz Schilling von Canstatt, der sich anlässlich der Hochzeit seiner Enkelin im September 2000 in den USA aufhielt, übergab Jean als Spende des Familienverbandes einen Scheck in Höhe von 250 Dollar. Vetter Heinz erhöhte auf 300 Dollar.

Franz war 1855 zum Sekondeleutnant im 3. Infanterieregiment in Mannheim befördert worden. 1861 erbat und erhielt er den Abschied mit der Erlaubnis, in fremde Dienste zu treten und begab sich mit seinem Bruder Ludwig nach Amerika. Er wurde während des damals tobenden Sezessionskrieges von den USA als Offizier eingestellt und erhielt am 22. März 1862 den Auftrag, auf einer Insel im Delaware ein Fort anzulegen. Im September 1863 wurde dann er mit der Anlage des Forts Monroe in Virginia betraut. Schilling, der schließlich zum Major befördert wurde, nahm an verschiedenen Schlachten teil, unter anderem auch an einem Gefecht unter General Grand bei Wilsonwarft am James-River.

Franz heiratete 1869 Molly Booker, die Tochter eines Farmers aus einer alten virginischen Familie. Nach dem Tod des Schwiegervaters erbte Molly die Farm, die so auch in Franz’ Besitz kam. Es zeigte sich aber bald, dass die Farm durch den Krieg derart gelitten hatte, dass sie verkauft werden musste. Franz nahm anschließend verschiedene Beschäftigungen an, als er dann auch noch krank wurde, kehrte er 1890, wie bereits zuvor schon sein Bruder Ludwig, nach Deutschland zurück. Er starb fünf Jahre später in Karlsruhe. Seine Frau und die beiden Söhne Marshall und Franz blieben aber in den USA. Marshall ist der Großvater von Jean.

Franz war übrigens nicht der erste Schilling von Canstatt der versucht hat, in Amerika Wurzeln zu schlagen. Von der III. Linie dieses Stammes hatte Georg Friedrich (geb. 1762 in Karlsruhe) 1787 eine stürmische Schiffpassage nach Philadelphia unternommen. In New York heiratete er 1788 Magdalena Falkenhahn. Da seine Geschäfte in New York recht erfolglos blieben, ließ er sich 1792 in London nieder. Er ist der Begründer des englischen Zweiges der Familie. Aber ein Sohn, (James Ernest 1803 bis 1876) wanderte mit seiner Familie wieder in die USA aus und wurde Ahnherrn des zweiten großen Familienastes in Amerika. Sein Sohn William hatte 16 Kinder. William der auch der Ur-Großvater von Bill Schilling von Canstatt-Lutz ist, den wir - wie bereits erwähnt - im vergangenen Jahr zu 80. Geburtstag geehrt haben. James und der Vater von Franz, Wilhelm (1796 bis 1856) hatten einen gemeinsamen Großvater: Karl Friedrich Freiherr Schilling von Canstatt (1726 bis 1772), den Stammvater aller noch lebenden Schillinge des südlichen Stammes.

Östlicher Stamm (Baltikum)

 

Noch ein Museum: In St.Johannis/Järva-Jaani in Estland. Dazu schreibt Cousine Helene (Tönisvorst):

"Viele Teilnehmer des Familientages `99 in Estland nahmen in St.Johannis/Järva Jaani die Gelegenheit wahr, das gerade eröffnete Feuerwehrmuseum zu besuchen. Der Vorsitzende des Feuerwehrvereins, Tuve Kärner, sprach damals von der geplanten Erweiterung des Museums in dem Gebäude und auf dem Gelände des früheren Gutes Orgena/Orina, die nun durch die großzügige Spende von Vetter Jürgen aus Wilhelmshaven möglich wäre. Tuve Kärner griff auch die Anregung auf, den Familien Schilling und Gebhardt einen Platz einzuräumen.

 

Das Gut Orgena im BaltikumSchillings waren von 1765 bis 1920 Besitzer des Gutes Orgena sowie von 1867 bis 1920 des benachbarten Gutes Jürgensberg/Kuksemäe. Vater und Sohn Ferdinand von Gebhardt wirkten als Pastoren in St. Johannis Ein weiterer Sohn des Ferdinand sen. ist der bekannte Maler Eduard von Gebhardt (1838 bis 1925). Die Familien Schilling und Gebhardt waren befreundet.

Bei meinem nächsten Besuch im August 2000 konnte ich feststellen, dass der Feuerwehrverein sehr fleißig an seinem Vorhaben gearbeitet hat. In einem der ehemaligen Wirtschaftsgebäuden von Orgena kann man weitere Feuerwehrfahrzeuge bewundern und ein kleiner Raum wurde zur Vorführung von Filmen eingerichtet.

Im Herrenhaus befindet sich im großen Saal ein Museum für Motore von Traktoren, die eingeschaltet werden können. Im Obergeschoss wurde der Grundstein für ein Heimatmuseum gelegt. Dort werden außer zwei alten noch undatierten Flurkarten von Orgena mehrere Tafeln über die Familie Baron Schilling sowie die Kirche von St. Johannis und ihre Pastoren gezeigt.

Die "Schilling-Tafeln" zeigen neben den Familienwappen Angaben über die Geschichte und die Besitzer der Güter Orgena und Jürgensberg. Dazu gehören auch Pläne der Gutsanlagen mit Bildern der Herrenhäuser und von Wirtschaftsgebäuden. Eine Tafel zeigt einen Stammbaum der Familie, beginnend mit Kaspar I. (geb. 1470), sowie eine Landkarte von Estland, auf der die Güter der Familie eingetragen sind. Ferner eine Übersicht über die Schillingschen Güter im Kreise Jerwen und ergänzend dazu Bilder der Besitzer, beginnend mit Karl Gebhard (1717 bis 1779), denen seine Enkel auf den Stammgütern folgen: Karl Raphael (1789 bis 1855) auf Serrefer, Gustav Gideon (1795 bis 1880) auf Orgena, und dessen Sohn Georg (1834 bis 1902) auf Jürgensberg sowie Alexander Napoleon (1803 bis 1866) auf Seinigal. Ferner sind für Orgena alle weiteren Besitzer angegeben: Julius (1862 bis 1897), Hermann (1897 bis 1903) und Moritz (1903 bis 1919) sowie die Stammtafeln mit allen Nachkommen dieses Hauses ausgestellt.

Besondere Berücksichtigung findet der berühmteste Sohn des Hauses Orgena, Admiral Nikolai Baron Schilling, mit einem Bilde sowie Angaben und Karten über seine wissenschaftliche Arbeit über die Strömungsverhältnisse im Polarmeer. Erwähnenswert ist auch der Text eines in estnischer Sprache erschienen Gedichts über Fabian Wilhelm (1761 bis 1831), Sohn von Karl Gebhard, das sein gutes Verhältnis zu den Gutsleuten dokumentiert.

Die Tafel an einer anderen Wand gibt Auskunft über die Geschichte der Kirche von St. Johannis mit einer Liste ihrer Pastoren. Zu ihnen gehören u.a. Christian Kelch, der 1887 die Volksschule in Orgena gründete sowie die beiden bereits erwähnten Pastore von Gerhardt. Über den Maler Eduard v.G. gibt nicht nur sein Lebenslauf Auskunft. Zu sehen sind auch Fotos seiner Werke in Estland (Altarbild in der Domkirche zu Reval und in der zerstörten Alexanderkirche zu Narwa) sowie eine Studie zum Gemälde "Bergpredigt" für die Friedenskirche in Düsseldorf und ein Bild seines Grabes in Düsseldorf.

Tuve Kärner und seine Frau zeigten mit berechtigtem Stolz, was sie geschaffen haben, waren aber auch aufgeschlossen und baten uns um Anregungen für erforderliche Änderungen oder Berichtigungen. Cousine Helene beendet ihren Bericht mit den Worten: "Wir können dankbar dafür sein, dass unsere estnischen Freunde in St. Johannis Interesse zeigen, die Verbindung zur Vergangenheit herzustellen und zu pflegen.

 

Anhang: Reise nach Orgena

Vetter Jürgen (Jahrgang 1909) hat uns einen hochinteressanten Bericht über eine Reise zum Gut Orgena, dem Geburtsort seines Vaters, vom 6. bis 8 März 1944, also während des Zweiten Weltkrieges, geschickt. Er schrieb seine Erinnerungen am 16. März 1944 an Bord des Lazarettschiffes "Rügen".

"Auf See eilten meine Gedanken bereits voraus nach Estland, dem Heimatland meines Vaters. Sie verweilten bei den Bilde des Gutshauses Orgena, an das ich mich aus der Kinderzeit nur schemenhaft erinnern konnte. Während ich halbwach auf meiner Koje lag und meine dienstlichen Aufgaben als Chefarzt meines Lazarettschiffes für den anbrechenden Tag überdachte, riss mich die Alarmglocke aus meinen Gedanken. Einen Augenblick später stand ich auf der Brücke und beobachtete einen zweimotorigen russischen Torpedoflieger, der das Feuer eines Vorpostenbootes mit seinem Bordwaffen erwiderte. Bogenförmige, leuchtende Bahnen beschrieben die Leuchtspurgeschosse der Kanonen und Maschinengewehre am dämmernden Morgenhimmel. Dann kurvte die angreifende Maschine. Der stürzende Torpedo klatschte aus einiger Höhe ins Wasser, aber erreichte sein Ziel nicht. Hellwach erwarteten wir einen weiteren Angriff. Aber er blieb aus. Das Schiff nahm seinen Kurs auf Reval (Tallinn), das wir in einigen Stunden erreichen sollten.

Bald grüßte uns schon aus der Ferne das stolze, urdeutsche Bild der Stadt Reval mit seinen hoch ragenden Kirchtürmen, seinen wehrhaften Bauten und dem Domberg. Aber im Hafen forderte der Dienst wieder sein Recht. Verhandlungen mit den Dienststellen der Kriegsmarine nahmen mich ganz in Anspruch und lenkten mich von meinen frühmorgentlichen Betrachtungen ab. Es musste wohl eine Fügung des Schicksals sein, dass die Verwundeten von der Narwafront bereits am Vortage auf einem anderen Lazarettschiff Aufnahme und Pflege gefunden hatten. Kurz gesagt, es standen einige Tage Hafenruhe bevor. Was lag näher, als bei der vorgesetzten Dienststelle einen mehrtägigen Urlaub zu erbitten, um ins Land der Väter zu fahren. Der verständnisvolle Chef des Stabes versah mich mit einem Dienstbefehl: Dienstliche Nachforschungen im Kreis Weißenstein, in dem Orgena liegt.

 

5./6. März 1944: Da die Bahnverbindungen völlig unzureichend für die Durchführung der dienstlichen Aufgaben waren, erhielt ich Erlaubnis, die Reise im Dienstwagen durchzuführen. Schon am nächsten Morgen ging es in flotter Fahrt durch die winterliche Landschaft. In meiner Begleitung befand sich mein Vetter Georg Baron Schilling (Anm. d. Red.: Vater unseres Geschäftsführers Hans), der 1913 auf dem Nachbargut Jürgensberg geboren war. Georg traf ich ganz zufällig in Reval. Er war nicht abgeneigt, als Dolmetscher mitzufahren.

Hoch ragten die Tannen im verschneiten Walde. Charlottenhof ließen wir hinter uns und im Lauf des Vormittags erreichten wir das Kirchspiel St. Johannis (Järva Jaani). Unser ortskundiger Fahrer ließ den Wagen links von der Straße einbiegen und unser Blick fiel auf einen kleinen Heldenfriedhof, zwischen Bäumen eines lichten Parks gelegen, und auf das langgestreckte Gutshaus Orgena mit seinem charakterischen Säulenvorbau.

Und dann hielt unser Wagen vor dem Haus. Wir traten ein. Die Zeit war hier nicht stehen geblieben. Im Hauptbau waren Soldaten eines deutschen Strafbataillons samt Stab untergebracht. Im linken Flügel lag die Wohnung eines estnischen Schuldirektors. Eine estnische haus- und landwirtschaftliche Schule für junge Mädchen war seit Jahren im ehemaligen Gutsgebäude untergebracht. Ein Leutnant, der bei Direktor Arveel in Quartier lag, führte uns zu seinem Gastgeber. Herr Arveel mochte Ende Dreißig sein, er ging an einem Stock, denn ein Bein hatte er durch Amputation verloren. Wir unterhielten uns auf deutsch. Ich erklärte ihm das besondere Interesse an Orgena.

Wir wurden durch das gut gehaltene Haus geführt. Ich bewunderte die dicken Mauern, die schönen, geschwungenen messingnen Türklingen aus alter Zeit, das prächtige, eingelegte Parkett der Halle und nicht zuletzt ein spinettartiges, in nussbaumfarbiges Holz und Mahagoni ausgeführtes Klavier. Georg erkannte in diesem Stück ein einst gepflegtes Klavier aus Kardina (Anm. d. Red.:Ein Nachbargut. Der Mann von Jürgens Tante Marie, Ernst Baron von Rosen, stammt aus Kardina) . Wer weiß, welchen Weg es bis hierher hinter sich gebracht hat. Im Geiste sah ich Bilder auftauchen, von der Enteignung der deutschbaltischen Herrenschicht in Estland, die aus dem eigenen Haus vertriebene Familie des Gutsherren, zusammengedrängt im Verwalterhaus, Notverkäufe der Möbel aus altem Familienbesitz....Und nun nach zwei Jahrzehnten dieses Zusammentreffen. Unser estnischer Hausherr war ja schließlich nicht verantwortlich. So schwieg ich. Aber die Gedanken fraßen weiter.

In fröhlicher Schlittenfahrt ging es durch die Ortschaft St. Johannis. Zurück blieben die Ruinen ehemaliger Stallungen und Remisen des Gutes. Fast städtisch wirkte die Hauptstraße mit einigen Läden und auch einem Uhrmachergeschäft. In Richtung zum Kleinbahnhof lag ein fabrikähnliches Gebäude. Aber über allem ragte der schlanke weiße Turm der Kirche St. Johannis. An der Kirche stiegen wir aus und schritten den vom Schnee freigeschaufelten Weg, auf dem noch frisches Tannengrün von einer kirchlichen Feier lag, hinan zur Kirche. Sie wies nur einen kleinen Mauerschaden auf, der den Beginn des Russlandfeldzuges erinnerte.

Wie ein Wahrzeichen alter deutscher Art hielt sie nun seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts Wacht. Eng an der Kirche geschmiegt das Schillingsche Erbbegräbnis. Die Kirche selbst trägt an der Außenmauer eine Grabtafel des ersten Erbherren auf Seinigal und Orgena, Karl Gebhard Schilling mit dem Familienwappen. In Gedanken versunken standen wir vor den Grabsteinen. Wir lasen die Inschriften und verfolgten die Generationen. Auch vor dem weißen Marmorkreuz meiner so früh verstorbenen ältesten Schwester verweilte ich. Sie ruhte wie alle anderen in heimatlicher Erde. Sie wussten, wo sie einmal ihre Ruhestätte finden würden. Leben und Sterben hatte damals eine sichere Bahn.

In einem durch Holzschlag stark gelichteten Park fanden wir das in Holz errichtete große Herrenhaus des früheren Gutes Jürgensberg. Auf der Veranda hockten russische Kriegsgefangene. Die schön geschwungene Holztreppe von der Halle zum ersten Stock war baufällig. In den zahlreichen Räumen des oberen Stockwerkes lagen auf Stroh, Macherka rauchend, wenig vertrauenserweckende Gestalten. Vom Gang trat ich in ein leerstehendes Zimmer. An der Wand hing eine mit Liebe ausgewählte geblümte Tapete. Wer mochte hier wohl gewohnt haben? Ich nahm meinen finnischen Dolch und entfernte die messingne Türklnke. Sie soll mich später an das alte Jürgensberg erinnern.

Hohe Bäume begrenzen unseren Weg zum Erbbegräbnis Jürgensberg. In einem schattigen Hain liegt eine schlichte Kapelle. Daneben ruhen die Toten. Ein umgestürztes Kreuz, sonst atmet alles Frieden und Stille. Auch hier viele Schillingsche Namen, daneben, wie in St. Johannis, unter anderem Rosens und Stackelbergs Auf der Rückfahrt fuhren wir an der Brennerei und Flachsfabrik vorbei, die noch Georg Vater erbaut hatte. In Orgena hielten wir Kriegsrat. Wir beschlossen, Georg mit dem Auto nach Turgel (Türi) zu bringen, damit er von dort am nächsten Tag die Rückfahrt per Bahn nach Reval antreten konnte. Georg arbeitete zusammen mit Baron Kursell bei der Balt.-Oil.

Unterwegs machten wir in Kaltenbrunn (Anmrk. d. Red.: eine andere Tante von Jürgen, Margarethe, hatte den aus Kaltenbrunn stammenden Georg Freiherrn von Stackelberg geheiratet) Halt. Und besichtigten das Schloss, in dem eine Volksschule untergebracht war. Im oberen Stock, besonders bemerkenswert, der große Saal. Obwohl Wände und Decke stark beschädigt sind, beeindruckten doch die Stuckarbeiten des italienischen Künstlers, der diesen Saal ausgeschmückt haben soll. Ein halber Wandspiegel und das stark beschädigte Parkett mit seinen großen Mustern erinnern an früheren festlichen Glanz. Auf der Fahrt nach Turgel besichtigen wir noch das frühere Schillingsche Gut Seidel. In Turgel trafen wir spät abends ein. Es war plötzlich recht kalt geworden. Ein sternklarer Himmel wölbte sich über uns. Da das einzige "Hotel" von einer Schauspielertruppe belegt war, fuhren wir zum Ortslazarett, wo wir vom Chefarzt reizend aufgenommen wurden. . Im Casino, das sich im nahegelegenen Pastorat befand, verlebten wir einige vergnügte Stunden.

 

7. März 1944: Am nächsten Morgen ging es nach einem kräftigen Frühstück auf tiefverschneiten Straßen zurück in Richtung St. Johannis. Auf einer Straße, die noch nicht vom Schneepflug geräumt war, blieben wir mit mehr Glück als Verstand ausgerechnet vor einem Bauernhaus stecken. Unser Auto schoben wir in einen Schuppen. Während unserer Fahrer sich mit dem Montieren der Schneeketten beschäftigte, hatten wir Zeit für einen Imbiss mit einigen klaren Schnäpsen. Schließlich wurden wir doch noch, nach Passieren eines Schneepfluges, wieder flott, mussten aber im Dorf Orgmetsa vor meterhohen Schneewehen kapitulieren. Selbst Raupenschlepper versagten. Wir forderten telefonisch aus Orgena einen Schlitten an.

Der Schneesturm auf der Heimfahrt blies uns in unsere schafpelzgefütterten Mäntel. Vornübergebeugt und zusammengekrümmt versuchten wir dem Wind möglichst wenig Angrifffläche zu geben. Einmal blieben wir fast stecken. Eine quer zur Straße verlaufende fast zwei Meter hohe Schneewehe versperrte den Weg. Schließlich stand unser Pferd jenseits der Schneewehe und unser Schlitten so schief, dass wir fast nach hinten herausgefallen wären. Aber auch dieses Hindernis wurde genommen. Im windgeschützten Walde ging es das letzte Stück auf unser Ziel Orgena zu. Nach einem kleinen Abendessen saßen wir noch lange mit Herrn Arvel und den deutschen Kameraden bei laufend gefüllten kleinen Gläsern beisammen.

Auf dem guten Nachtlager, das Frau Arveel meinem Feldwebel und mir bereitete, schliefen wir lange in den nächsten Tag hinein. Vormittags besuchten wir den estnischen Pastor. Er zeigte uns die Kirche mit ihren Schönheiten. Altar und Kanzel vor Jahrhunderten gestiftet von Baron Nikolaus Rosen. Dann spielte mein Feldwebel Lang auch noch die Orgel, während ich die Bälge trat. Und vom Kirchturm aus schauten wir weit in das waldreiche Land.

Beim Bürgermeister Steinberg wurden wir freundlich empfangen. Besonders erfreut zeigte sich der alte Herr Steinberg, der im Gesichtsschnitt eigentlich mehr wie ein deutscher Baron aussah. Bei Biscuits und Likör kam eine nette Unterhaltung in Gang. Er erzählte von seiner früheren Verwaltungstätigkeit bei meinem Großvater Julius. Als Erwiderung für die nette Aufnahme lud ich die Familie Steinberg zum nächsten Vormittag zu einem Imbiss ins Gutshaus ein.

Es wurde ein feuchtfröhlicher Abschied. Herr Arveel versprach mir, einen Holzdecke für eine Familienchronik zu schnitzen: Ansicht des Hauses Orgena mit Familienwappen (Anmerkung: Wer weiß, was aus Herrn Arveel wohl geworden ist?!) Am Nachmittag mussten wir noch an einer Geburtstags- und Abschiedsfeier für einen estnischen Tierarzt teilnehmen, der mit uns nach Reval fahren wollte. Unter vielen Winken und Hallo starteten wir nach Reval. Aber schon vor Charlottenhof hatten wir Motorenpanne, wurden abgeschleppt und landeten bei einer Transporteinheit., wo wir auch übernachteten.

 

8. März 1944: Am nächsten Morgen setzten wir unseren Mitreisenden in Reval ab. Am Abend war ich bei Kapitän zur See Strebel eingeladen, dessen Frau eine ausgezeichnete, große Kohlpirogge zubereitete. Und es war sehr gut, dass wir diese Köstlichkeit am 8. März verspeist hatten. Denn am 9. März 1944 heulten die Luftschutzsirenen. "Tannenbäume" standen am Himmel und russische Bombenserien, Volltreffer in Gebäude und ausgedehnte Brände folgten. Im Keller des großen Hafenproviantspeichers richtete ich eine Aufnahmestelle für Verwundete aus dem Hafengebiet ein. Mein Schiff schickte ich noch während des ersten Angriffs auf Reede. Am nächsten Morgen verließen wir mit 300 Verwundeten den Hafen.

Bald sahen wir nur noch die Silhouette Revals am dämmerigen Horizont. Wir waren wieder auf See."